Demut statt Dominanz

In seiner Branche hat er einen großen Namen: HG Merz. Der Stuttgarter gestaltet Museen, bevorzugt solche, die vom Atem der Geschichte umweht werden.

© Reiner Pfisterer HG Merz (Foto: Reiner Pfisterer)
HG Merz (Foto: Reiner Pfisterer)

Wer suchet, befand einst der Apostel Matthäus, werde auch fündig. 2.000 Jahre später will die Frage nicht verstummen, wann sich das Finden einstellt. Hans Günter Merz ist noch nicht so weit. Er sucht seit Langem, genau gesagt seit 65 Jahren. „Ich weiß jetzt, was ich nicht will“, sagt er. „Was ich aber will, weiß ich noch immer nicht.“

Im Stuttgarter Osten sitzt er an diesem Nachmittag in einem lichtdurchtränkten Großraumbüro. Ein Dirigent, orchestriert von jungen Architekten, Historikern und Grafikern, unter denen er nicht weiter auffällt. Das Äußere korrespondiert bei ihm mit dem Inneren. HG Merz, einer der führenden Museumsgestalter Europas, trägt Turnschuhe und verwaschene Jeans und ein weißes Hemd unter einem Pullover, der farblich zum Bart passt, in welchem die Jahre ins Grau gehen.

„Alt werden ist ein herrliches Ding, wenn man nicht verlernt hat, was anfangen heißt.“ Ein Satz, der Martin Buber zugeschrieben wird, aber auch von Merz sein könnte, welcher das „HG“ seit der frühen Kindheit als Markenzeichen trägt, was mit dem Umstand zu tun hat, dass auf der Schwäbischen Alb unter den Seinen im Jahrgang der Hans in aller Munde war und die Burschen deshalb oft einen zweiten Namen führten. Es gab den Hans Peter und den Hans Ulrich und eben auch den Hans Günter, den alle irgendwann „HG“ riefen und so ist es geblieben.

Der Vater war Architekt in Tailfingen, die Mutter skeptisch, ob aus HG etwas Gescheites werden würde. Geschichte hat ihn in der Schule interessiert, und ansonsten war er schon damals eher unkonventionell unterwegs, um es vorsichtig auszudrücken. Er stellte alles in Frage und probierte alles aus. An der Architektur, dem Metier des Vaters, gefielen ihm vor allem die schrägen Typen, die sich anders kleideten, die anders wohnten und anders lebten. „Die waren alle nonkonformistisch.“ Genau das wollte er auch sein, was ihn nach dem Abitur schnurstracks an die Universität Stuttgart führte, wo er sich in der Kunst des Bauens unterweisen ließ.

Als es ans Diplom ging, beschäftigten sich die meisten seiner Kommilitonen mit architektonischen Entwürfen, während HG Merz ein Thema entdeckte, das ihm in Zeiten der 1968er weitaus prickelnder erschien: „Marxistisch- leninistische Analyse der amerikanischen Mobile- Home-Industrie“. Es sei nur am Rande erwähnt, dass er die Prüfung mit Auszeichnung bestand und auch noch ein Stipendium einheimste, das ihn zu den Hippies nach Amerika brachte, die es verstanden, den Müll des Wohlstands auf ihre Art zu verbauen.

„Die abseitigen Aspekte der Architektur haben mich schon immer mehr interessiert als das klassische Einfamilienhaus“, sagt HG Merz und schaut für einen Moment aus dem Fenster in der Ostendstraße auf das Gewoge der Stadt. Als er zurückkam aus den Vereinigten Staaten, ließ er sich in Stuttgart nieder. Anfangs zeichnete er zu Hause in der Küche und ernährte sich von „Architektenpetersilie“, von kleineren Aufträgen, von Läden und Umbauten. Irgendwann Mitte der 1980er-Jahre traf er bei einer Party auf den Stuttgarter Museumsgestalter Knut Lohrer, der ihm nicht nur eine neue Welt eröffnete, sondern auch einen reizvollen Auftrag hatte: den Umbau des alten Daimler-Benz-Museums.

So hat es angefangen, und wenn man so will hat der Suchende damals zu seiner Profession gefunden, nicht aber zu sich selbst. HG Merz gründete eine Familie. Sein Architekturbüro hatte er im Wohnhaus, damit er bei seinem Pensum auch noch was von den vier Kindern hatte. Er gewann mit seinem Team immer mehr Wettbewerbe, stellte Leute ein, holte namhafte Preise, zog mit seiner Firma in den Stuttgarter Osten und siedelte auch in Berlin eine Dependance an.

„Das alles kann man nicht planen“, sagt der Schwabe, der nicht zum Abheben neigt, was sich auch in der Internetseite des Architektenbüros spiegelt, auf der sich HG Merz, der Patron, wie selbstverständlich einreiht unter den Mitarbeitern. „Demut statt Dominanz“ lautet sein Motto, nicht nur im Marketing.

Vielleicht liegt darin ein Geheimnis des Erfolgs, der sich in einer beeindruckenden Liste von Projekten manifestiert, denen der Umstand gemein ist, dass sie zu einem guten Teil vom Atem der deutschen Geschichte umweht werden. Alte Nationalgalerie auf der Museumsinsel in Berlin. Staatsoper Unter den Linden. Militärhistorisches Museum Dresden. Berliner Staatsbibliothek, Zeppelinmuseum in Friedrichshafen. Schlesisches Museum zu Görlitz. Ehemaliges Konzentrationslager Sachsenhausen, eine Gedenkstätte, die Merz sein wichtigstes Werk nennt.

„Deutsche Geschichte hat mich immer interessiert“, sagt er. „Ich suche sie und sie sucht mich.“ Damit ist dieses Phänomen in seinen Augen hinlänglich beschrieben. Bleiben noch zwei Stuttgarter Großprojekte zu erwähnen, die seinen Stempel tragen, was an sich schon eine kleine Sensation ist, wenn man bedenkt, dass die Auftraggeber in nicht unerheblicher Konkurrenz zueinander stehen. Die Rede ist von den Musenhorten der Autodynastien Porsche und Daimler, beide von Weltrang. Dass ein und derselbe Museumsgestalter beide Museen konzipiert und die Ausstellungen gestaltet hat, mutet einigermaßen verwegen an. „Die Unternehmen hatten damit weniger Probleme“, sagt HG Merz im Rückblick. „Ich tat mich schwerer und spürte die Verantwortung.“ Das eine Museum durfte schließlich keinesfalls ein Aufwasch des anderen sein. Merz hat das auf seine Art gelöst. „Das Mercedes-Benz Museum ist ein prächtiger Blumenstrauß, das Porsche-Museum eine schöne Calla“, sagt der Schöpfer über sein Werk. „Beim einen ist die Geschichte die Bühne, beim anderen das Objekt.“

Einen Wegweiser gibt es für Projektsucher in dieser Liga nicht, vertrauen kann einer wie Merz allenfalls auf die Härchen in der Nase und auf das Gespür für Menschen und Objekte. Er selbst sieht das ganz nüchtern. „Ich höre zu und versuche zu verstehen.“ Sagen das nicht alle anderen auch von sich? „Der Unterschied mag vielleicht darin liegen, dass ich es auch mache.“

Zu den Stärken des Stuttgarters gehört wohl auch, dass er seine Projekte behutsam denkt, das Neue achtet, ohne das Alte zu verachten. Authentizität statt Artefakt. Intellekt statt Inszenierung. Dafür steht er und dafür ackert er oft wie ein Pferd, als Chef im Büro und als Professor für experimentelles Gestalten an der Technischen Universität in Darmstadt. Er will das so, anders ist er nicht denkbar. „Ich bin ein Ruheloser und das ist noch extremer geworden, seit meine Frau gestorben ist.“ Mehr als drei Tage pro Woche schläft er selten zu Hause in Stuttgart. Heute China, morgen Tirol, übermorgen Berlin. Urlaub gönnt sich der Unternehmer selten, abgesehen vom jährlichen Fliegenfischen in Alaska, bei dem er sich am Ufer in der Tiefe entspannt.

Seine Augen wirken etwas müde unter der Hornbrille. Sie hatten länger keine Pause. Niemand kann ewig dem Blick in den Spiegel ausweichen. Ihm gelingt es erstaunlich gut. Noch immer geht er als „Berufsjugendlicher“ durch, wie seine Töchter sagen, noch immer hört er ähnliche Musik wie seine Kinder und noch immer trägt er bevorzugt die sportlichen Treter mit Gummisohlen, die ihn gedämpft durch die Welt tragen, von einem Ort zum anderen. Das wird sich in absehbarer Zeit nicht ändern. „Viele meiner Freunde sind längst angekommen“, sagt Hans Günter Merz. „Ich aber suche noch.“

 

Text: Michael Ohnewald

Für seine Reportagen und Porträts ist Michael Ohnewald mit den renommiertesten Preisen ausgezeichnet worden, die im deutschen Journalismus vergeben werden. Für 179 porträtiert der Ludwigsburger Autor herausragende Persönlichkeiten aus der Region.