Querdenker in der Oase

„Zukunft passiert nicht, Zukunft wird gemacht“, sagt Tobias Wallisser. Mit Chris Bosse und Alexander Rieck betreibt er in Sydney und Stuttgart ein von Ideen der Natur inspiriertes „Labor für visionäre Architektur“.

© Bild : Reiner Pfisterer Tobias Wallisser (Foto: Reiner Pfisterer)
Tobias Wallisser (Foto: Reiner Pfisterer)

Wenn zwei Männer von ihrem Schlag an einem Tisch sitzen, reicht ein Stichwort. Man hält es ihnen hin wie ein Streichholz und in Bruchteilen von Sekunden lodern die Flammen. Alexander Rieck und Tobias Wallisser sind von dieser Art. Zwei Architekten, die für ihren Job brennen. Grenzgänger sind sie in ihrer Branche und Querdenker, die kein Büro für Architektur betreiben, sondern ein Labor. Das ist ein feiner Unterschied. Die Crew vom „Laboratory for Visionary Architecture“, kurz LAVA, lebt sich vor allem in Saudi-Arabien und China aus, dort, wo kühne Fragen gestellt werden. Manches von dem, was die unkonventionellen Planer mit digitalen Werkzeugen erschaffen, weckt Erinnerungen an Jules Verne, der in Romanen wie „20.000 Meilen unter dem Meer“ die Welt von morgen vorweggenommen hat.

Wobei Tobias Wallisser rein äußerlich nichts von Kapitän Nemo hat. Ein lässiger Typ, um den Hals ein Modeschal, an den Füßen knallige Turnschuhe. Keiner, der abhebt, es sei denn, es geht um die Architektur von übermorgen, bei der für ihn wie in der Natur das eine mit dem anderen verwoben ist. „Die Zeit der einfachen Wahrheit ist vorbei“, sagt Wallisser.

Erprobte Lösungen aus dem Labor der Fauna und Flora sind für hungrige Architekten ein gefundenes Fressen. Es gibt dort viel zu entdecken. Kraken haben kräftige Saugnäpfe wie man sie sich für Wandbefestigungen im Bad wünscht. Giftstachel von Bienen sind effektive Spritzen. Termiten haben in ihren Bauten ausgeklügelte Lüftungssysteme. Riffe wachsen dem Plankton entgegen, und vielleicht gibt es eines Tages Biohüllen für Gebäude, die sich vom Dreck in der Luft ernähren. Für Tobias Wallisser ist das mehr als bloße Spinnerei. Er hat gerade eine Studienarbeit für ein Projekt in der Stuttgarter Neckarstraße betreut, dessen Fassaden die Umwelt entgiften. Erschaffen wurde das Bauwerk von morgen am Computer von heute durch einen Bauplan von gestern, gespeist aus dem Reich der Korallen.

„Die Natur ist eine der größten Inspirationsquellen“, sagt Wallisser und deutet auf ein Poster, welches die Zukunft der urbanen Räume vorwegnimmt. Die Projektion einer Stadt, die bereits Gestalt annimmt. Sie liegt unweit von Abu Dhabi und heißt Masdar City. Seit 2008 entsteht dort die erste CO2-neutrale Solarstadt. Masdar soll 22 Milliarden Dollar kosten und 47.000 Menschen beherbergen.

Das Team von LAVA hat den Wettbewerb für den zentralen Masdar Plaza gewonnen. Die schwäbischen Exportplaner verwirklichen in der Wüste von Abu Dhabi nicht nur ein Hotel mit Konferenzzentrum, wie es in der Ausschreibung vorsehen war. Gestalten ist bei den Stuttgartern ein dynamischer Prozess und so ist zwischen den Bauten in Computermodellen ein kühner Platz entstanden, der auch realisiert wird. Elektronisch gesteuerte Sonnenschirme im XXL-Format kühlen ihn tagsüber und nutzen die Kraft der Sonne durch integrierte Fotovoltaikzellen. Das Prinzip der Schirme ist ähnlich wie bei Sonnenblumen, die sich zum Licht hin öffnen. Bionik lässt grüßen. Regenwasser fließt an den Schirmen ab und wird in Zisternen gesammelt. Nachts können die Schattenspender eingeklappt werden, um die Auskühlung des öffentlichen Raums zu beschleunigen.

Die geistigen Väter preisen ihr Baby als „Oase der Zukunft“. Was nach einem Märchen aus Tausendundeiner Nacht klingt, ist die reale Kunst einer neuen Generation digital ausgebildeter Architekten, für die Entwerfen nahe bei Erfinden liegt. „Normalerweise sind Architekten darauf spezialisiert, Antworten zu geben“, sagt Alexander Rieck. „Wir sind auch Spezialisten darin, die richtigen Fragen zu stellen.“

Lustvoll verschieben sie Grenzen in ihrem Labor am Stuttgarter Hauptbahnhof. Dort stehen experimentelle Köche an digitalen Herdplatten. Ihre Zutaten sind Utopien, und wenn es gut läuft, servieren sie am Ende ein Menü, das sich abhebt von dem, was in ihrer Branche sonst auf den Tisch kommt. „Wenn Ingenieure so kochen würden, wie sie planen“, sagt Tobias Wallisser, „müssten sie furchtbare Sachen essen.“ Man könne sich das vorstellen wie bei der Spaghettipackung, auf der steht, dass die Teigwaren nach acht Minuten im Wasser fertig sind. Wer sich strikt daran hält, hat oft schwer zu kauen. Wallisser nennt das „Legitimation durch Prozess“. Acht Minuten und basta! „Das ist die Krankheit der Planung“, sagt der Professor. „Die Natur macht das besser.“

Nicht jeder kann sich solche Freiheiten im Denken unternehmerisch gönnen. Tobias Wallisser, 40, und sein Partner Alexander Rieck, 43, können es. Beide haben einen zweiten Job, der sie finanziell und intellektuell speist. Wallisser ist Professor an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart. Rieck kümmert sich bei der Fraunhofer- Gesellschaft, in der 17.000 Wissenschaftler vernetzt sind, um Märkte von morgen.

Die Partner kennen sich vom Studium an der Universität Stuttgart. Eine Zeitlang hatten sie sich aus den Augen verloren. Wallisser ging mit dem Diplom in der Tasche an die Columbia University in New York und heuerte 1997 im renommierten Architekturbüro von Ben van Berkel und Caroline Bos in Amsterdam an. Als Projektleiter für das Mercedes-Benz-Museum kam er zurück in die Stadt, in der Rieck lebt und arbeitet. Vor vier Jahren fanden sie zusammen und machten sich selbstständig. Ein kleines Büro, ein internationales Netzwerk von Spezialisten. Rieck und Wallisser führen das Unternehmen in Stuttgart, Bosse hält in Sydney die Stellung.

Wissenschaftlich auf dem neuesten Stand ist das Trio, inspiriert von der Selbstregulierung der Natur, in größeren Zusammenhängen denkend. „Alles was ich mache, hat einen Einfluss auf alles andere“, sagt Alexander Rieck. Das ist ihm neulich bewusst geworden, als er in Saudi- Arabien mit einem Scheich über die Grenzen des Fortschritts sprach. Da erzählte ihm der Mann, dass er sich die Frage gestellt habe, warum die Menschen nicht mit viel größeren Raketen in den Weltraum aufbrechen, um dort nach neuen Räumen zu suchen. Fachleute sagten ihm, das liege an den Tunnelröhren, die Grenzen setzten für die Größe von Bauteilen. Da fragte der Scheich, wer die Tunnelgröße festgelegt habe und bekam zur Antwort, dass man ihre Größe einst an den Zügen ausgerichtet habe. Die Züge wiederum hingen von den Spurweiten ab, die sich an der Größe der Kutschen orientierten, welche so gebaut seien, dass gerade zwei Pferde nebeneinander passen.

„Der Lauf der Welt hängt also von zwei Pferdehintern ab“, sagt Tobias Wallisser und grinst. Neben ihm piepst ein orangenes Multifunktionshandy. Der Architekt muss weiter. Die Zukunft zementieren. Quer denken. Spaß haben.

Text: Michael Ohnewald

Für seine Reportagen und Porträts ist Michael Ohnewald mit den renommiertesten Preisen ausgezeichnet worden, die im deutschen Journalismus vergeben werden. Für 179 porträtiert der Ludwigsburger Autor herausragende Persönlichkeiten aus der Region.