Im Land des unbekannten Wissens

Der Stuttgarter Architekt Werner Sobek hat weltweit konstruktive Meisterwerke hinterlassen. Wer ihn beauftragt, will eine Philosophie. Seine liegt im Prinzip der Nachhaltigkeit.

© Reiner Pfisterer Werner Sobek (Foto: Reiner Pfisterer)
Werner Sobek (Foto: Reiner Pfisterer)

Vor dem Büro von Werner Sobek in Degerloch gibt es drei bequeme Ledersessel. Es kommt selten vor, dass sie frei sind. Immerzu warten Menschen an diesem Ort, dass sich die Türe einen Spalt öffnet und ein charismatischer Mann zum Vorschein kommt, der ein sprudelnder Quell ist. Die Leute warten gerne, weil er sie bewässert.

Sobek sitzt an einem schlichten Tisch, er trägt ein weißes Hemd. Seine wachen Augen blicken durch eine unaufdringliche Brille. Es gibt Typen, die brauchen keinen Schnickschnack und kein pseudokosmopolitisches Imponiergehabe, um den Raum mit ihrer Präsenz zu fluten. Sobek ist so einer. Wer ihm näher kommen will, muss ihn über die Kultur des Bauens reden lassen und ab und zu ein Stichwort hinhalten wie ein Streichholz. Es dauert nicht lange, dann brennt es lichterloh.

Der Hausherr hat einiges zu erzählen. Als Architekt, Designer und Ingenieur ist der vielfach preisgekrönte Schwabe weltweit tätig. Seine 1992 gegründete Gruppe zählt mehr als 200 Mitarbeiter und hat Niederlassungen in Stuttgart, Dubai, Frankfurt, Istanbul, Moskau, London, New York und São Paulo. Ein Mann, der in zwei Universen lebt. Einer, der in Dubai die Glasfassade im welthöchsten Wolkenkratzer plant und zugleich in Stuttgart in einem Glashaus sitzt, gepriesen in zahlreichen Architekturpostillen als Keimzelle für eine Revolution im Bauwesen. Sobek bringt das alles spielend zusammen. Für ihn ist es kein Widerspruch, in Bangkok den Flughafen zu bauen und sich zugleich vom Klimawandel derart herausgefordert zu fühlen, dass er in Berlin und Stuttgart mit Leidenschaft und eigenem Geld recycelbare Effizienzhäuser verwirklicht, die vorwegnehmen, wie der Mensch schon heute wohnen kann, um die Erde von morgen nicht zu belasten.

Mit dem Virus des Bauens hat er sich früh angesteckt. 1953 in Aalen geboren, genießt Sobek in jungen Jahren am Rande der Ostalb die Weite des unverstellten Blicks ebenso wie die Stille der Provinz. Seine Eltern lehren ihn die Wertschätzung des anderen. Das prägt ihn. Der Vater, Ingenieur bei den Schwäbischen Hüttenwerken, werkelt am Wochenende gerne am eigenen Häusle. Manchmal deponiert er dafür ein paar Säcke Zement in der Garage. Meistens sind sie nach wenigen Stunden verarbeitet, allerdings nicht vom Vater, sondern vom Sohn. „Ich bin einer, der immer Neues schaffen muss“, sagt Werner Sobek über sich. „Das ist so, seit ich denken kann.“

Getrieben von konstruktiver Neugier studiert er bei renommierten Lehrmeistern, die er wenig später beerbt. Als Nachfolger von Frei Otto und Jörg Schlaich leitet Sobek bis heute das Institut für Leichtbau Entwerfen und Konstruieren an der Universität Stuttgart. „Mein Impetus war immer die Schaffung von Schönheit“, sagt Sobek, der in Zäunen nicht zuvorderst ein Medium sieht, um sich vor fremdem Blick zu schützen, sondern eine Herausforderung, neue Blicke auf sich selbst zu gewinnen. Das treibt ihn an. Als er in den 1980er- Jahren liest, dass die Politik der Autoindustrie vorgibt, Fahrzeuge zu großen Teilen recycelbar zu produzieren, kommt der Architekt ins Grübeln. Gebäude sind die größten Klimasünder der Welt. Ihr Bau und Abriss, ihr Betrieb und ihre Instandhaltung verbrauchen mehr Ressourcen und sorgen für mehr Emissionen als der gesamte Transport und Verkehr. Sobek beginnt Anfang der 1990er-Jahre erste Vorlesungen über recycelbare Bauten zu halten. Seine Kollegen schütteln den Kopf. Sie wollen nicht über den Verfall nachdenken, sie wollen für die Ewigkeit bauen. Der Stuttgarter Kollege geht seinen eigenen Weg.

Seine Exkursionen führen nicht selten über unbekanntes Terrain. Im Jahr 2000 stellt er eine neue Vision in den Raum. Wieder wird er belächelt. Sobek postuliert „Triple Zero“. Dahinter steckt die Idee, dass die Gebäude unserer Zeit aufs Jahr verteilt nicht mehr Energie verbrauchen, als sie selbst aus nachhaltigen Quellen erzeugen. Zudem sollen sie kein Kohlendioxid emittieren und eines Tages demontierbar und recyclingfähig sein, so dass kein Müll übrig bleibt. Die viel zitierte Vokabel „Nachhaltigkeit“ setzt sich mehr und mehr in ihm fest. 2007 gründet er mit anderen die „Deutsche Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen“, die sich auf ihre Fahnen schreibt, Verantwortung für Probleme wie Klimawandel und Ressourcenverschwendung zu übernehmen, statt sie kommenden Generationen zu überlassen.

Fragt sich nur, ob sich das am Ende auch rechnet? In New York hat Sobek ein Schlüsselerlebnis. Er sitzt im Taxi, das im Stau steht. Im Radio unterhalten sich Fachleute über nachhaltiges Bauen und sprechen von einem blödsinnigen Trend aus dem alten Europa. Sobek spürt seinen Blutdruck steigen, als plötzlich einer der Experten in die Debatte wirft, dass auf diesem Markt reichlich Geld zu verdienen sei. Unversehens schwenkt die Runde um. „If there is that much money in the pot, then we go green!“

Solchermaßen beflügelt, begeistert der Stuttgarter Architekt auch die Politik für sein baukulturelles Selbstverständnis. Im Dezember 2011 weiht Bundeskanzlerin Angela Merkel an der Berliner Fasanenstraße einen futuristischen Würfelbau ein, der als einzigartiges Modellprojekt die Alltagstauglichkeit eines Hauses erprobt, das nicht nur mehr Energie erzeugt als es verbraucht, sondern auch noch über eine Elektrotankstelle verfügt und somit als „E-Mobilie“ das Wohnen der Zukunft mit der Mobilität der Zukunft verbindet. Sobek ist der Kopf hinter dem „Effizienzhaus Plus“, das Hunderttausende von Besuchern in Berlin anlockt. „Ich wollte das weiße Buch des nachhaltigen Bauens mit Text füllen“, sagt er.
Inzwischen sind einige Kapitel geschrieben und auch in Stuttgart gibt es neuerdings eine Immobilie, die in die Zukunft weist. Das Forschungsprojekt am Bruckmannweg 10, kurz „B10“ getauft, liegt im Herzen der 1927 entstandenen Weißenhofsiedlung. Sobek untersucht mit seinem Team, wie innovative Materialien, Konstruktionen und Technologien die „gebaute Umwelt“ verbessern können. „Das Nachhaltige ist etwas zutiefst Schwäbisches“, sagt der Baumeister und grinst.

Sobek ist einer, der polarisiert. Seine Ansichten sorgen nicht selten für Diskussionsstoff. Auch auf die Stadt, in der er lebt und an der er sich manchmal reibt, hat der Architekt seinen eigenen Blick. „Wir haben es bis heute nicht geschafft, eine Erzählung darüber zu schreiben, wie wir unsere Stadt in Zukunft haben wollen.“ Sobek spricht von unglaublichen Möglichkeiten durch die frei werdenden Bahnflächen inmitten der City, um die Stuttgart in der ganzen Welt beneidet werde. Wenn es nach ihm geht, steht das hundert Hektar umfassende Planungsgebiet „prototypisch für gesundes Wohnen“. Fassaden, die Lärm absorbieren, biokompatible Materialien und Plätze mit dem Charakter der Einzigartigkeit. „Ich möchte die Poesie der Natur wieder in diese Stadt bringen.“

Werner Sobek hat sich den Mund beim Erzählen trocken geredet. Er nippt an seinem Wasser und blickt auf die Uhr. Draußen sitzen die nächsten Gesprächspartner. Sie warten schon eine Weile. Sobek ist gespannt, was auf ihn zukommt. „Ich wandere gerne im Land des unbekannten Wissens“, sagt er.

 

Text: Michael Ohnewald

Für seine Reportagen und Porträts ist Michael Ohnewald mit den renommiertesten Preisen ausgezeichnet worden, die im deutschen Journalismus vergeben werden. Für 179 porträtiert der Ludwigsburger Autor herausragende Persönlichkeiten aus der Region.