Buon appetito!

In den 1960er-Jahren ist Michele Di Gennaro mit seinem Bruder Antonio als Maurergehilfe nach Stuttgart gekommen. Aus den Gastarbeitern wurden Unternehmer. Heute sind die Di Gennaros Marktführer für italienische Premiumfeinkost in Deutschland.

© Michael Ohnewald Michele Di Gennaro (Foto: Michael Ohnewald)
Michele Di Gennaro (Foto: Michael Ohnewald)

Manchmal zwickt sich der Patrone in den Arm, um sich zu vergewissern, dass er nicht träumt. 72 Jahre alt ist er jetzt und ein gemachter Mann, dessen Name vom Aroma Italiens umweht wird. Von Trüffeln aus Perugia. Kapern aus der Bucht von Pollara. Schinken aus Parma. Pecorino aus der Toscana. Aceto Balsamico aus Reggio Emilia.

Das war nicht immer so. Als er damals in Stuttgart aus dem Zug stieg, hätte keiner einen Pfifferling auf ihn gesetzt. Niemand hätte es für möglich gehalten, dass er einmal die Genüsse Italiens verkörpern und ein Unternehmen mit 120 Mitarbeitern führen würde, dessen Jahresumsatz von mehr als 22 Millionen Euro darauf beruht, dass seinen Kunden der Geruch von Salsiccia al Peperoncino in die Nasen weht, wenn sie nur an ihn denken. Als er damals ankam in diesem Land der unbegrenzten Möglichkeiten, roch es nach Speis ganz anderer Art: nach dem Mörtel, mit dem die Deutschen ihr vom Krieg gezeichnetes Land aufbauten. Und Michele Di Gennaro baute mit.

50 Jahre später sitzt ein feiner Herr mit aschgrauem Haar und gütigen Augen in einem Feinkosttempel auf dem Schlachthofgelände und erzählt von dem Mann, der er einmal war. Serviert wird die Geschichte mit einem Cappuccino aus der hauseigenen Bar, dessen Crema über die Tasse ragt wie der Monte Baldo über den Gardasee. So schmeckt das Leben, so schmeckt Italien.

In den frühen 1960er-Jahren schmeckte es nach Armut. Michele Di Gennaro arbeitete auf den Äckern der Familie in San Nicandro Garganico, einer fruchtbaren Gegend in der Provinz Foggia, wo der Wind von der Küste über die Olivenhaine bläst und die Grillen im Sommer wahrhaft grandiose Konzerte geben. Sie hatten den Vorteil, kostenlos zu sein, denn am meisten fehlte es den Di Gennaros an Geld. Die Deutschen hatten welches und warben um Gastarbeiter. Schweren Herzens schickte Vater Sebastiano Matteo seine beiden Söhne in die Fremde. Michele war 20, sein jüngerer Bruder Antonio noch nicht einmal 16. Zum Gesundheitscheck reisten beide nach Verona, wo der Arzt verdutzt auf Antonio starrte: „Was willst du in Deutschland? Geh lieber in die Schule.“

Am 5. Mai 1961 saßen sie im Zug nach Deutschland. „Seid mutig“, sagte der Vater zum Abschied, „ihr schafft es in Deutschland.“ Stuttgart hieß die Stadt, in der sie ausstiegen. Ein schwäbischer Bauunternehmer hielt ein Schild mit ihren Namen in die Höhe. Es war ein heißer Tag und sie hatten trockene Zungen. „Wollt ihr was trinken?“, fragte der neue Chef die beiden Hilfsmaurer. Sie verstanden kein Wort und schüttelten den Kopf.

Die ersten Monate verbrachten die Di Gennaros nach Feierabend in ihrem kleinen Bauwagen auf dem Fasanenhof. Eine Mark und 93 Pfennig bekamen sie pro Stunde. Das meiste, was sie verdienten, schickten sie nach Hause zu den Eltern und den beiden Schwestern. Einmal kam ein Päckchen aus San Nicandro zurück. Sie machten es gierig auf, in der Hoffnung auf einen guten Käse, auf Spaghetti oder etwas Süßes. „Stattdessen hat der Vater uns ein Wörterbuch geschickt“, erzählt Michele Di Gennaro. In ihrer kulinarischen Not manschten sie deutsche Nudeln mit Tomatenmark zusammen. „Das schmeckte scheußlich, aber es gab damals weder italienische Pasta noch passierte Tomaten.“

Das Glück ist seltsam. Es kann versteckt sein und kalt. Sie suchten es trotzdem, mauerten und gipsten und schufteten in der Fabrik. Das Glück ließ auf sich warten. Im Herbst 1968 zeigte es sich nach der Olivenernte. Michele und Antonio nahmen Urlaub in Deutschland, um in Apulien zu helfen. Zurück fuhren sie in einem alten Fiat millecinquecento, dessen Kofferraum voll war mit dem eigenen Olivenöl. Zu ihrem Erstaunen waren ihre Landsleute auf den deutschen Baustellen ganz scharf auf die Mitbringsel. Im Handumdrehen war alles verkauft.

Dies war der Anfang des Feinkosthauses Di Gennaro und der Beginn einer Geschichte con cuore, mit Herz. Immer öfter reisten die Brüder jetzt nach Italien, um neben ihrem Job als Gastarbeiter mit importierten Gaumenfreuden zu handeln. Zupass kamen ihnen die Zeiten, die sich langsam änderten. Mit dem Wirtschaftsaufschwung nahm die bilaterale Völkerwanderung ihren Lauf. Die Tedeschi entdeckten Ende der 1950er-Jahre Vino, Spaghetti vongole und Riemchensandalen. Als die ersten mit ihren Volkswagen gen Süden aufbrachen, war Konrad Adenauer Kanzler, Elvis Presley diente als Soldat, und die SPD erklärte sich zur Volkspartei.

Damals galt der Gardasee als Synonym für Fernweh, nicht Neuseeland oder Tansania. Die Leute zahlten in Lire und an den Rezeptionen der Hotels und Campingplätze bekamen deutsche Gartenzwerge ihren festen Platz.

Die Brüder aus San Nicandro nutzten das für sich und eröffneten in der Region Stuttgart ihre ersten Läden, in die bald auch Deutsche pilgerten. Die Firmengründer versuchten der Zeit voraus zu sein, indem sie die Trüffel unter den Spezialitäten ihres Landes ausfindig machten. Das zahlte sich aus. Heute sind sie in Deutschland Marktführer für italienische Premiumfeinkost mit Filialen in Frankfurt am Main, Düsseldorf, Nürnberg und München. Von ihrer Zentrale im Stuttgarter Osten beliefern die einstigen Gastarbeiter 2.500 Kunden quer durch die Republik, verstärkt auch mit Leckereien der Eigenmarke Di Gennaro, die mittlerweile 350 Produkte umfasst.

Im Jackett des Patrone klingelt das Handy. „Pronto. Ciao Roberto. Eine Momente bitte.“ Das Geschäft ruft. Die Brüder verkaufen nicht nur Prosciutto und Panettone, sondern liefern auch die passenden Anekdoten dazu. Das ist ihr Rezept auf dem umkämpften Food-Markt. Michele Di Gennaro mischt dabei noch immer jeden Tag mit, probiert die neue Soße ai frutti di mare, organisiert und verhandelt. Dabei ist sein Sohn längst im Unternehmen und auch die Kinder seines Bruders arbeiten mit. Die zweite Generation steht für das Morgen, ohne das Gestern zu vergessen. „Man muss mit den Füßen auf dem Boden bleiben“, sagt Michele Di Gennaro. Es klingt wie das Vermächtnis von einem, der um das Menü eines erfüllten Lebens weiß. Obwohl er sich jetzt Luxus leisten kann, hat er am liebsten noch immer die schlichten Spaghetti al pomodoro auf dem Mittagstisch. „Die könnte ich jeden Tag essen.“

Vergangenheit entsteht erst dadurch, dass man sich auf sie bezieht. Kaum ein Tag vergeht, an dem er nicht an den Vater denkt, der seine beiden Söhne aus Not fortschickte und darauf hoffte, dass sie es schaffen. „Leider hat er es nicht mehr erlebt“, sagt der Patrone und kneift seine Augen zu wie der traurige Robert Redford in „Der Pferdeflüsterer“. Gerne hätte er seinem Vater den Orden gezeigt, den ihm die Regierung in Rom vermacht hat für seine Verdienste um die italienische Kultur in Deutschland. Cavaliere darf er sich jetzt nennen. Michele Di Gennaro, der kleine Maurer aus Apulien, der mit nichts anfing und die Deutschen auf den italienischen Geschmack brachte.

 

Text: Michael Ohnewald

Für seine Reportagen und Porträts ist Michael Ohnewald mit den renommiertesten Preisen ausgezeichnet worden, die im deutschen Journalismus vergeben werden. Für 179 porträtiert der Ludwigsburger Autor herausragende Persönlichkeiten aus der Region.