Bestens verkabelt

Mit drei floh er an der Hand seiner Mutter in den Westen, mit 35 gründete er seine erste Firma, die Lapp Systems. Jetzt ist er 60 und noch immer schwer auf Draht: Hausbesuch bei Siegbert Lapp.

© Michael Ohnewald Siegbert Lapp (Foto: Michael Ohnewald)
Siegbert Lapp (Foto: Michael Ohnewald)

In einem schlichten Besprechungsraum sitzt ein Mann, an dem alles sitzt. Frisur, Krawatte, Anzug. Er hat eine Stunde für das Gespräch. Mehr gibt sein Terminkalender nicht her. „Ich habe keine Zeit, mich zu beeilen“, hat der russische Komponist Igor Strawinski einmal gesagt. Bei einem schwäbischen Unternehmer klingt das ein bisschen anders. „Ich habe keine Zeit für Jetlag“, sagt Siegbert Lapp, Technikvorstand des gleichnamigen Familienkonzerns. Der Mann ist viel unterwegs, heute in Amerika, morgen in Asien. Er fliegt durch die Zeitzonen der Welt wie die Frau aus der Werbung für „Drei Wetter Taft“. Sie sieht immer gut aus. Bei ihm ist das ähnlich.

Vielleicht liegt das an seinen Genen. Sein Vater Oskar war auch von diesem Schlag. „Mister Kabel“ haben sie ihn ehrfürchtig genannt. Aus einer Garagenfirma hat er einen weltweit führenden Konzern geformt, der heute 3.150 Mitarbeiter auf der Lohnliste hat, 17 Fertigungsstandorte unterhält und 860 Millionen Euro Umsatz einfährt. Die Unternehmensgruppe ist zu 100 Prozent im Besitz einer Familie, die nicht nur zusammenhält, sondern Familie auch außerhalb der eigenen Reihen großschreibt. Nicht von ungefähr steht Siegbert Lapp seit 21 Jahren einem Verein vor, der sich zum Ziel gesetzt hat, bedarfsgerecht und unternehmensnah Kinderbetreuung anzubieten. Heute ist diese Idee salonfähig, in den 1990er-Jahren tingelte Lapp als Exot durch so manche Salons, in denen verdutzte Kollegen saßen, die er um Geld für eine Tagesstätte bat. Als sie 470.000 Mark zusammenhatten, eröffneten sie 1994 die Bärcheninsel – das erste von inzwischen sieben Kinderhäusern in Stuttgart.

„Die Welt besteht aus denen, die etwas tun, denen, die zusehen, wie etwas geschieht, und denen, die fragen, was geschehen ist.“ Dieser Satz stammt von dem US-Manager Norman Augustine, passt aber gut auf die Lapps aus Germany, die seit je mehr vom Tun verstehen als vom Nichts-Tun. Nur so ist ihr soziales Engagement zu erklären und überhaupt ihre Geschichte, die vom Atem der Tellerwäscherkarrieren umweht wird. Die Teller, das waren in ihrem Fall die Kabel.

Siegbert Lapp kann sich noch gut erinnern, wie er an der Hand seiner Mutter „rübermachte“. Sie flohen in Berlin über die Grenze in den Westen. Er war damals drei Jahre alt und kannte nicht viel mehr von der Welt als ein kleines Städtchen im Thüringer Wald namens Benshausen. Dort hat die Familie ihre Wurzeln, dort war sein Vater Oskar 1921 geboren. Sie hatten einen kleinen Gewerbebetrieb für Drehteile und Ventile. Im Krieg musste Oskar Lapp an die Front, er landete im sibirischen Gefangenenlager. Nach seiner Rückkehr versetzte der junge Ingenieur zum ersten Mal Grenzen, die andere gesetzt hatten. Er suchte sein Glück nicht in der umfriedeten Heimat, sondern in Süddeutschland, wo seine Schwester wohnte.

Die Familie kam in Echterdingen unter. Sie waren Aussiedler und hatten nicht viel. Die Lapps wohnten in einer winzigen Dachgeschosswohnung auf einem Bauernhof. Oskar Lapp fand Arbeit in einer Stuttgarter Firma, die unter anderem Medizingeräte und Schallplattenspieler produzierte. Er zog Kabeladern in Schläuche ein und fragte sich, warum alle in einer Farbe sein müssen, nämlich schwarz. Es war eine Fitzelei, die einzelnen Enden zu identifizieren. Um sie zuordnen zu können, praktizierte man umständlich das so genannte Durchklingeln.

Man könnte es salopp einen „Lappsus“ nennen, aus dem Oskar Lapp ein Geschäft machte, das die Gegenwart mit der Zukunft verbinden sollte. In ihm reifte eine Idee, die sich weltweit durchsetzte: ein Farbcode für Einzeladern. Der Erfinder produzierte zu Hause mehradrige Steuerleitungen für den Maschinenbau in passgenauen Einheiten. Das kam einer Revolution gleich. Damals in den 1950er- Jahren waren Kabel in Konfektionsgrößen von 20 Kilometern Satzlänge üblich und lange Wartezeiten die Regel.

„Mein Vater ist ein genialer Unternehmer gewesen“, sagt der Sohn Siegbert mehr als 50 Jahre danach über den Patron, der zusammen mit seiner Frau Ursula Ida 1959 die nach ihr benannte U. I. Lapp KG gegründet hat, wobei sich die Eheleute nach Aufnahme eines Kredits über 50.000 Mark auf eine kluge Arbeitsteilung verständigten. Er erfand neue Produkte und reiste zur Kundschaft, sie kümmerte sich um die Buchhaltung und anfangs auch um den Versand der Ware. Siegbert Lapp hat noch heute das Bild seiner Mutter vor Augen, die einen klapprigen Leiterwagen zum Bahnhof zog, um dort Pakete für die Kundschaft per Bahnexpress aufzugeben.

Mit den Kabeln lief es wie am Schnürchen. Aus dem Leiterwagen wurde ein Opel Rekord, aus der Garage im Rosental das erste Werk in Stuttgart-Vaihingen. Siegbert Lapp bekam noch zwei Brüder, machte eine Lehre und danach ein Studium. Mit 35 gründete der Wirtschaftsingenieur seine erste Firma, die Lapp Systems. Früher als ihm lieb war, musste er gemeinsam mit seinem Bruder Andreas und der Mutter 1987 die Verantwortung in der elterlichen Firma übernehmen. In jenem Jahr starb sein Vater an einem Herzleiden.

Die Familie rückte zusammen. „Diese Zeit war für uns nicht einfach“, sagt Siegbert Lapp. Sein Bruder kümmerte sich um das Kaufmännische, er beschäftigte sich mit der Technik, entwickelte neue Produkte und meldete Patente an. In seiner Freizeit widmete er sich der Kunst, tauchte an Riffen oder schwang sich auf seine Harley, mit der er durch den amerikanischen Westen knatterte. In der Schweiz gründete er eine Firma, die sich vor allem mit der Forschung befasst. „Sie müssen sich vorstellen, dass Kabel im Motorraum heute für Dauertemperaturen von 150 Grad ausgelegt sein müssen“, sagt der Tüftler. Wer auf diesem Markt bestehen will, darf sich nicht ausruhen auf den Erfolgen von gestern.
„Wir sind, was immer wir tun.“ Der Satz von Aristoteles steht in einem Buch, das im Besprechungsraum vor Siegbert Lapp liegt. Er hat es mitgebracht, um zu verdeutlichen, dass sie nicht nur die Bühnentechnik der Rolling Stones verkabeln, sondern auch sonst Sinn stiftende Verbindungen schaffen. Im Gedenken an den Firmengründer hat die Familie eine Stiftung gegründet, die sich der Förderung der Kardiologie verschrieben hat und besonders junge Wissenschaftler auf diesem Gebiet unterstützt. Zu einer Herzensangelegenheit wurde auch die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Schon vor 20 Jahren seien Mütter zu ihm gekommen, erzählt Siegbert Lapp, die gerne eine Stelle angenommen hätten, dies aber nicht konnten, weil sie niemanden hatten, der ihre Kinder betreute. Da sei es Ehrensache gewesen, 1992 den Vorsitz im Dachverband Kind e.V. zu übernehmen, den elf Unternehmen aus dem Gewerbegebiet Vaihingen-Möhringen auf den Weg gebracht hatten. „Als wir anfingen, war das ein neuer Ansatz“, sagt Lapp. „Heute haben viele Betriebe erkannt, dass ein betriebsnahes, ganztägiges und pädagogisch hochwertiges Kinderbetreuungsangebot ein wichtiger Standortfaktor ist.“

Über die Zeit hat man keine Macht, nur über die Uhr. Siegbert Lapps Chronometer zeigt an, dass die Stunde vorüber ist. Eher beiläufig erzählt er noch von seinem Sohn Matthias, der jetzt auch in der Firma sei, und davon, dass sich die Familie finanziell kräftig in einem neuen Projekt engagiere. In Vaihingen habe man eine größere Immobilie erworben, in der bis zu 400 Kinder betreut werden könnten. Siebert Lapp trinkt sein Wasser aus und fährt sich kurz durchs Haar. „Man muss an Dinge glauben“, sagt er und schreitet festen Schrittes davon.

 

Text: Michael Ohnewald

Für seine Reportagen und Porträts ist Michael Ohnewald mit den renommiertesten Preisen ausgezeichnet worden, die im deutschen Journalismus vergeben werden. Für 179 porträtiert der Ludwigsburger Autor herausragende Persönlichkeiten aus der Region.