Ein gutes Vorbild: Die Wasserspinne

Auf dem Campus der Universität Stuttgart steht ein neuer Forschungspavillon

© Universität Stuttgart, ITKE Zu jeder Tageszeit eine Augenweide: der neue Forschungspavillion der Universität Stuttgart (Foto: Universität Stuttgart, ITKE)
Zu jeder Tageszeit eine Augenweide: der neue Forschungspavillion der Universität Stuttgart (Foto: Universität Stuttgart, ITKE)

Die einen schütteln sich vor Ekel, die anderen beobachten sie stundenlang: An Spinnen scheiden sich die Geister. Dennoch lässt sich viel von ihnen lernen, denn die Natur ist der beste Lehrmeister. In der Bionik verbinden sich Biologie und Technik. Dieses Prinzip haben die Studenten des Instituts für Computerbasiertes Entwerfen (ICD) und des Instituts für Tragkonstruktionen und Konstruktives Entwerfen (ITKE) an der Universität Stuttgart angewendet. Gemeinsam entwarfen sie einen Versuchsbau, der auf dem Campus in der Innenstadt steht und neugierige Blicke auf sich zieht. Ihr Vorbild aus der Natur waren die Nestbauten der Wasserspinne.

Interdisziplinäres Team

Da das Tier unter Wasser Luft zum Atmen braucht, baut es sich „Glocken“, in denen es die Luft sammelt. Die Hülle der Luftblase besteht aus verschieden dicken Fäden. Sie halten die Luft im Inneren. Diese Glocke diente den Studenten als Inspiration für ihren Forschungspavillon, der zum Lehrplan des zweijährigen Masterprogramms „Itech“ (Integrative Technologies and Architectural Design Research) gehört, eines internationalen Studiengangs der Universität Stuttgart. „Von Entwurf bis zur Ausführung sollen die Studenten alles selbstständig planen und umsetzen“, sagt Professor Achim Menges vom ICD. Ein interdisziplinäres Team aus Biologen, Paläontologen, Architekten und Ingenieuren war daran beteiligt.

45 Kilometer Carbonfasern

Aufgebaut wurde der Forschungspavillon zwischen den Uni-Türmen K1 und K2 und dem Stadtgarten an Ort und Stelle von einem Industrieroboter. Er verklebte 45 Kilometer feinste Carbonfasern, die den Spinnfäden nachempfunden sind, an der Innenseite einer aufgeblasenen und formgebenden Folienhülle. Auch dem neuartigen Roboter-Herstellungsverfahren sowie den computerbasierten Entwurfs- und Simulationsprozesse lag das System zugrunde, das die Studenten bei der Wasserspinne beobachtet hatten. Der gesamte Pavillon zeigt das Potenzial zur Übertragung biologischer Leichtbauprinzipen in die Architektur. Die ausgehärteten Carbonfasern bilden Verstärkungen, die an die jeweilige Last angepasst sind. Was im Nachhinein einfach klingt, war hartes Brot. „In diesem Projekt steckt viel Arbeit, Untersuchung und auch Misserfolg“, sagt der Wissenschaftler Jan Knippers vom ITKE. Nicht nur für die Studenten sei die Arbeit eine beeindruckende Erfahrung gewesen, mit schlaflosen Nächten und enormer Mühe.

Neues Architekturverständnis

Der Versuchspavillon verdeutlicht zudem, dass Entwurf und Realisierung nicht mehr streng getrennt voneinander erfolgen, sondern die vielen Möglichkeiten des Materials und der Programmierung neue Formen erzeugen können. Dieser von der unlängst verstorbenen Stuttgarter Architektenlegende Frei Otto inspirierte Ansatz verändert die seit der Renaissance üblichen Bauprozesse. „Über die 500 Jahre seit der Renaissance hat es sich tief im Entwurfsdenken verankert, dass wir eigentlich heute immer zuerst die Form entwerfen und danach über die Materialisierung nachdenken“, sagt Achim Menges. „Wir können das Material heute nicht mehr nur als passiven Empfänger einer entworfenen Form verstehen, sondern wir können das Material und auch die Fertigungsprozesse viel aktiver in den Entwurfsprozess einbinden.“

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